5 Jahre Festschrift Palliativmedizin
37 Seelsorge und Rituale Christine Günther Die seelsorgerlichen Aufgaben für mich als Pfarrerin auf dieser Station sind vielfältig, heraus- fordernd, bereichernd, ein Geben und Nehmen für beide Seiten: die Patienten, Angehörigen, Mit- arbeitenden einerseits und die Seelsorgerin an- dererseits. Ein wichtiges Anliegen ist mir, zusammen mit meinem Gegenüber Kraftquellen aufzuspüren, aus denen man gerade in schweren Zeiten schöpfen kann. Der Glaube ist so eine Quelle und Rituale können sichtbare Zeichen sein: Sie sollen Halt und Orientierung geben in Grenzsituationen des Lebens; Schutz bieten, wenn ich mich hilflos, leer, einsam erlebe; sie sind gemeinschaftsför- dernd, indem sie daran erinnern, dass Menschen auf „das größere Ganze“, auf Gott ausgerichtet sind; sie können „Pfeiler“ sein, in einer als le- bensbedrohlich empfundenen Situation. Für uns als Team war von Anfang an wichtig, dass wir mindestens einmal wöchentlich im Anschluss an die Teambesprechung ein Abschiedsritual für die auf Station Verstorbenen durchführen: ein Impuls am Anfang, ein Teelicht anzünden beim Verlesen des Namens, in der Stille erinnern oder auch aussprechen, was bewegt; ablegen, loslas- sen. Ein weiteres, ausführlicher gestaltetes Abschieds- ritual haben wir, ein Team aus dem Team, kreiert und bieten es dreimal jährlich für die Angehö- rigen der bei uns Verstorbenen an: einen ökume- nischen Gedenkgottesdienst. Im Anschluss da- ran gibt es für die Angehörigen die Möglichkeit, mit uns und untereinander ins Gespräch zu kom- men bei Kaffee und Kuchen. Dies findet im Vestibül der Frauenklinik statt. Ein besonderes Ritual in der Seelsorge ist der Segen unter Handauflegung und mit der Zusage der Gegenwart Gottes. Dies geschieht vor allem bei der Aussegnung eines Verstorbenen. Aber auch in anderen Zusammenhängen ist diese Form der Berührung und Zusage ein tief bewe- gender, be-leben-der Akt, der die Seele stärkt und beruhigt. Mögen viele Menschen bei den Worten palliativ, Palliativstation eher an schweres Leiden und Sterben denken, so möchte ich einige Beispiele von Leben und Leben- digkeit auf unserer Sta- tion einbringen. Zwei Lebensgefährten planten ihre Verpartne- rung. Da kam die le- bensbedrohliche Erkran- kung dazwischen und forderte alle ihre Kon- zentration auf kurative und schließlich palliative Therapien. „Wenn schon nicht vor dem Gesetz verheiratet, dann als Paar gesegnet sein“, das war ihnen wichtig. So gestal- teten wir, einige Teammitglieder und Angehörige des Paares, eine festliche und fröhliche Seg- nungsfeier mit Trauversprechen, Trauspruch und Ringwechsel. Im Anschluss daran wurde im Wohnzimmer gefeiert. Es wurde gelacht und auch getanzt im Rollstuhl! Für alle war das eine besondere, eine intensive Hoch-Zeit. Eine mich tief berührende Erfahrung machte ich mit einer Patientin, Mutter von zwei kleinen Kin- dern. Sie hatte ihre „Dinge“ geregelt, sich von ih- ren Lieben verabschiedet und war bereit, zu ster- ben. Ihr Mann war bei ihr. Im Laufe ihrer Erkran- kung hatte sie ihre eigenen Glaubenserfahrun- gen gemacht, die sie eher von der Kirche weg- brachten, wie sie es nannte. Sie wünschte sich von mir, noch einmal gesegnet zu werden, dann wolle sie ihren Mann segnen und er solle sie seg- nen. Unter Handauflegung und dem Zuspruch Gottes segnete ich sie, sie tat das bei ihrem Mann und er bei ihr. Dabei flossen Tränen und ganz viel Liebe war spürbar. In der Nacht verstarb die Patientin. Erlösung und Traurigkeit zugleich! Nicht immer „gelingt“ Seelsorge in dieser Weise. Oft ist da die Frage: „Wie kann Gott das zulas- sen?“ oder „Was habe ich denn getan, dass Gott mich so straft?“ Auch der Kirche entfremdete Menschen fragen bisweilen so. Mag es auch theologisch fundierte, dogmatische Entwürfe zur Theodizee-Frage geben, in der Praxis greifen sie nach meiner Erfahrung selten. Den Fragenden ernst nehmen mit seiner Wut, Hilflosigkeit und Trauer, Ängsten und Zweifeln, zusammen nach eigenen Antworten suchen, die Vertrauen schaf- fen und Licht ins Leben bringen, ist für mich Sorge für die Seele. Da gibt es auch nach fünf Jahren immer noch Neues, Lebendiges, Bewegendes auf der Pal- liativstation zu entdecken.
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